Jesaja 44,1-5 als Predigttext zu Pfingstsonntag(1)

Martin Prudký

veröffentlicht in: J. W. Dyk -- P. J. van Midden -- K. Spronk -- G. J. Venema -- R. Zuurmond (eds.), Unless some one guide me... Festschrift for Karel A. Deurloo, (Amsterdamse Cahiers voor Exegese van de Bijbel en zijn Tradities, Supplement Series 2), Shaker: Maastricht 2001, str. 137-148.

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1. alttestamentliche Texte als christliche Predigtperikopen

In der breiten Ökumene kann man in den letzten Jahrzehnten beobachten, wie das Alte Testament (der Tenach) als Grundlage für die christliche Predigt wiederentdeckt wurde. Unter anderem ist dabei bemerkenswert, dass in mehreren neueren Perikopenreihen alttestamentliche Texte für Predigttexte vorgeschrieben werden. Dass es eine wünschenswerte Entwicklung für die Kirche ist, wenn sie die Verkündigung des Tenachs als "die eigene frohe Botschaft" wieder hören lernt, braucht man in Amsterdamse cahiers nicht verfechten oder darlegen. Ich möchte in meinem Beitrag einige Aspekte besprechen, welche sich in der Begegnung der Exegese eines konkreten Textes und seiner homiletisch-liturgischen Anwendung als problematisch - und theologisch spannend - erweisen. Dafür möchte ich den Text Jes 44,1-5 als Beispiel nehmen. In einer alten Perikopen-Reihe der böhmischen Brüder-Unität(2) ist dieser Text als Predigtperikope für Pfingstsonntag vorgesehen. Kann man sagen, dass sich die Botschaft des Textes, wie sie mit Hilfe der Exegese zu verstehen ist, und der liturgisch-homiletische Casus einander entsprechen?

2. exegetische Bemerkungen zu Jesaja 44,1-5

Ein wichtiger Grundsatz, den man bei Karel Deurloo für die biblische Exegese lernen soll, ist, dass man die Endgestalt des Textes ernst nimmt. Neben einer Erarbeitung eigener idiolekter Übersetzung des Textes soll man den literarischen (theologischen) Kontext pfleglich auswerten und auf den Aufbau der gegebenen Text-Einheit achten.(3) Ich möchte hier auch diesen Schritten folgen. Weil aber die Abgrenzung der Text-Einheit gerade bei diesem Text, bzw. bei dieser Perikope eine entscheidende Rolle für das Verstehen der Gesamtaussage hat, möchte ich zuerst die Wahl der Text-Abgrenzung besprechen.

a. die Text-Einheit und die Perikopenwahl

Es ist im allgemeinen wohl bekannt, dass sich die Prinzipien der Perikopenabgrenzung nicht nach exegetischen, sondern nach liturgischen, bzw. kasuellen Gesichtspunkten richten. Worum es eigentlich geht, ist nämlich nicht strictu senso eine Auslegung des Textes, sondern ein Gebrauch des Textes im vorgegebenen liturgischen Kontext - ähnlich wie etwa bei der dicta probantia der Dogmatik wiegt hier entscheidend der Anwendungskontext, nämlich der liturgisch-homiletische Casus. Die Wahl des Textes und ebenso auch die Bestimmung seiner Grenzen dienen dieser Absicht. Am Beispiel von Jes 44,1-5 können wir beobachten, wie es mit dem eigentlichen Aufbau des Textes gegebenenfalls auch strittig sein kann.

Obwohl die Perikope mit Jes 44,1 anfängt und auch mehrere Übersetzungen hier eine größere Zäsur angeben,(4) muss man dagegen einwenden, dass mit der Form we'atta („jetzt aber") im Hebräischen keine selbstständige Text-Einheit anfangen kann. Nach diesem Adverbial-Partikel kommt meistens eine Aussage, die eng an das Vorhergesagte anknüpft und überraschende Aspekte, wichtige Korrekturen oder sogar ausgesprochene Gegensätze zu dem gerade Gesagten beibringt („ich sagte gerade A, jetzt aber sage ich B"). Den Textabschnitt, der mit Jes 44,1 anfängt, müssen wir also im Verhältnis zu dem Vorangehenden lesen und verstehen.

Eigentlich müssten wir für den gehörigen Kontext schon Jes 42,1ff halten. Deutliche Züge einer wohl komponierten Einheit, die einen unmittelbaren Kontext unseres Abschnitts bildet, weist dann Jes 43,1-44,23 auf. In diesem breiteren Rahmen steht dann der Absatz 43,22-28 im direkten Verhältnis zu unserem Text. Diese zwei Absätze bilden zusammen eine komponierte, in mehreren Niveaus zusammengebundene Doppel-Einheit.(5)

Beide Abschnitte sind demselben Adressaten zugesprochen (in einem auffälligen Parallelismus „Jakob // Israel"; siehe 43,22.28 // 44,1.5);(6) inhaltlich stehen die Aussagen beider Abschnitte in einem Kontrapunkt zueinander - 43,22-28 spricht über die Sünden und die Untreue „Jakobs/Israels", welche ihn zum „Bann" (cherem!) und „Hohnreden" (43,28) gebracht haben, obwohl 44,1-5 einen neuen Anfang, eine frappante Erneuerung durch das Ausgießen des Gottesgeistes verkündigt. Dieser Kontrapunkt und die gegenseitige Beziehung beider Aussagen ist für die Verkündigung Jesajas bezeichnend; sie bildet biblisch-theologisch wie auch literarisch-strukturell eine der prägenden Gegebenheiten dieses Prophetenbuches.(7)

Daraus ergibt sich, dass die Ausgrenzung des Textes, wie sie die Perikopen-Reihe vorschlägt, nur den zweiten Teil einer balancierten Doppel-Komposition zu hören bietet und dadurch zu Einseitigkeit und Unangemessenheit irreführen droht. Der Ausleger und Interpret sollte sich gegen diese Gefahr bewusst wehren durch ein bewusstes Einbeziehen des Kontextes.

b. der Text - Übersetzung und Gestalt-Andeutung

1 - Jetzt aber -
höre, Jakob, mein Knecht,
Israel, den ich erwählt habe!
2a So spricht der Jhwh, der dich gemacht hat,
und der dich gebildet hat vom Mutterleib an,
- er hilft dir - :
2b „fürchte dich nicht, mein Knecht, Jakob,
(und) Jeschurun, den ich erwählt habe!
3a - Fürwahr ! -
Ich schütte Wasser auf das durstige
und Bäche auf das trockene /Land/.
3b Ich schütte meinen Geist auf deinen Samen,
meinen Segen auf deine Sprößlinge.
4 Und sie werden aufsprossen /wie/ zwischen Gras(8),
wie Pappeln an Wasserläufen.
5a Dieser wird /dann/ sagen:
‚Dem Jhwh /gehöre/ ich!'
und jener wird sich mit dem Namen Jakob nennen.
5b Und dieser wird /dann/ schreiben auf seine Hand:
‚Dem Jhwh /eigen/!'
und mit dem Namen Israel wird er sich auszeichnen."

c. der Aufbau der Text-Einheit

Der Aufbau eines Textes markiert meistens auch die Grundlinien für die inhaltliche Aussage. Das Aufdecken des formalen Aufbaus kann uns also auch in unserem Verstehen der sachlichen Inhalte - Motive, Themen und ihre Logik - orientieren.

Wie die meisten Texte im Jesaja-Buch ist auch dieser Absatz in seiner Form sehr regelmäßig und poetisch fein ausgebaut. Mit einer Variation im Vers 2a und mit Ausnahme von Vers 5 sind alle Sätze durchaus symmetrisch in Bikolon-Parallelismen gebildet, was dem Ganzen ein schlag-regelmäßiges Gepräge gewährt. Der Vers 2a ist pointiert zum Trikolon ausgedehnt; der Vers 5 ist eine symmetrische Komposition zweier Trikolonen, wobei die dritten Glieder miteinander noch einen Chiasmus bilden. Mit seiner entfalteten Form stellt der fünfte Vers einen passenden Abschluss dieser wohl komponierten Texteinheit dar.(9)

Auf Grund der makrosyntaktischen(10) und formal-sprachlichen(11) Gegebenheiten können wir dann den Text in vier Sequenzen aufteilen.

i. Vers 1: eklesiologische Anrede

Im Vers 1 ist die zuhörende Kommunität angesprochen. Obwohl die Titulierung in einem poetischen Singular formuliert ist („Jakob/Israel"), wird damit die ganze Exil-Kommunität des Gottesvolkes (also das verbannte Juda(12)) gemeint. In Hinsicht auf den modus dicendi - direkte Anrede - ist hier die stärkste Form des Zeitworts bedeutsam, der Imperativ.

ii. Vers 2: die Botschaft in Formeln ausgedrückt

Die zweite Sequenz beinhaltet zwei Aussagen, beide in Gestalt einer Standard-Formel. Zuerst erklingt die so genannte Botenspruchformel, womit die darauffolgende Aussage mit der Autorität eines Jhwh-Wortes vorgezeichnet ist - der Prophet redet hier mit seinem „Ich" als „Mund Gottes".(13) Darauf kann die zweite Formel, die sog. Heilsorakelformel erklingen. Mit den bekannten Worten „fürchte dich nicht" wird hier Gottes Nähe, Zuwendung, Hilfe und Rettung verkündet (vgl. 43,1.5 u.a.). Obwohl in conreto noch nicht deutlich ist, worin die Hilfe besteht, ist schon im Grunde das Entscheidende ausgedrückt - adversativ zu „Bann" und „Hohnreden" (43,28) wird „jetzt aber" (44,1) hier Trost verkündet. In Hinsicht auf den modus dicendi - direkte, volitive Anrede (Aufruf) - ist hier ganz passend ein Jussiv (bzw. Vetitiv) verwendet.(14)

Zu der formelhaften Aussage sind in der Einleitung wie auch in der Titulierung wichtige Motive beigefügt. Der Jhwh, der hier spricht, ist einer, „der dich gemacht hat" - dieses Motiv drückt die souveräne schöpferische Macht Gottes aus, der im Stande ist, auch im Exil für sein Volk rettend aufzutreten (vgl. 43,1; 44,24). Der engagierte Beistand Gottes wird dann im dritten Glied der Apposition syntaktisch hervorgehoben. Die Adressaten sind dann wieder als „Jhwhs Knechte, die er auserwählt hat", charakterisiert. Dazu kommt noch die Variation des Namens Israel mit „Jeschurun". Diese poetische Anrede wird meistens als Ausdruck einer eifernden Zuwendung verstanden(15) und unterstreicht damit den Einstellungswechsel im Bezug auf 43,28.

iii. Vers 3: die Botschaft als konkrete Verkündigung

Die dritte Sequenz knüpft an die formelhafte Heilszusage direkt an und konkretisiert sie inhaltlich. Das angewandte Argument stellt dann das kerygmatische Zentrum des Absatzes dar.

In makrosyntaktischen Hinsicht ist diese Sequenz ganz gehörig eingeleitet mit dem affirmativen Partikel („fürwahr / ja, sicher!") und die Verbformen entsprechen dem Haupttempus der indikativischen Anrede (jiqtol; bzw. sog. Discursiv(16)).

Diese Sequenz ist durch zwei ganz symmetrisch formulierten Parallelismen gebildet. Die Symmetrie wird noch dadurch unterstrichen, dass das leitende Zeitwort beider Aussagen identisch ist - „ich schütte / ich gieße auf...". Die erste Aussage ist hierbei figürlich verfasst (ein Bild vom Bewässern des trockenen Landes), die zweite bezeichnet die Sache unmittelbar und direkt - es geht um einen /neuen/ Segen für die Nachkommen Jakobs. Diese Doppel-Struktur, erst einer figürlichen und dann einer direkten Bezeichnung, finden wir auch in der folgenden Sequenz.(17)

iv. Vers 4-5: die Konsequenzen, Zukunftsperspektive

Mit der w-qatal-Form knüpft die vierte Sequenz an das Vorangehende als eine Folgerung an. Hier werden die erwarteten Konsequenzen geschildert. In derselben Weise wie in V. 3a und 3b macht auch hier die Aussage einen Doppelschritt - V. 4 knüpft an das Bild des V. 3a an (das Aufsprossen des Bewässerten), V. 5 spricht dann konkret über die Erneuerung der Söhne Jakobs (Zugehörigkeitsbekenntnis zu Jhwh). Aus dieser strukturellen Logik ergibt sich, dass der V. 5 ein integrales Glied dieser Texteinheit ist - kein nachträglicher oder unpassender Zusatz.(18)

Überdies ergibt sich daraus, dass dieser Vers nicht zu einem anderen Subjekt hinüberspringt, sondern von dem „Samen / Nachkommen" (V. 3b) spricht. Den Sprung zu einem anderen Subjekt macht aber fast die ganze christliche Auslegungstradition, weil sie diesen Text völlig in der Perspektive des Pfingst-Ereignisses (nach Apg 2,1ff) liest - „dieser" (V. 5) ist kein in seinem Verhältnis zu Jhwh erneute Israelit, sondern ein Proselyt,(19) wenn nicht direkt ein Christ.(20) Diese Auffassung, welche wir trotz ihres ehrwürdigen Alters und trotz ihrer Übermacht in der Wirkungsgeschichte für exegetisch falsch halten,(21) hängt offensichtlich mit dem christlichen Verhalten zusammen, die alttestamentlichen Texte als eine direkte Verheißung der christlichen Glaubensgegebenheiten zu lesen. Diese Grundhaltung zeichnet sich auch ganz deutlich in der Weise, wie die Tempora der Verb-Formen in den christlichen Übersetzungen wiedergegeben werden.

d. die Tempora der Verben, bzw. Modus dicendi und seine Funktion

In vielen Übersetzungen(22) wird die jiqtol-Form der zentralen Aussage (V. 3) mit einem indikativischen Futurum wiedergegeben („ich werde gießen"). So schon die Septuaginta, welche darüber hinaus für das eine parallelisierte Zeitwort noch zwei verschiedene Äquivalente einsetzt.(23) Die Aussage wird damit eindeutig als Zukunftsverheißung interpretiert, welche in die aktuelle Not, in das Verderben des Gottesvolkes, eine Aussicht auf die Gabe des Geistes verkündet.

Bei der Beurteilung der hebräischen Verbform-Funktionen muss man aber von der Gattung des Textes und dem rhetorischen Modus ausgehen. Hier handelt es sich um direkte Anrede, die einen Aufruf (Imperativ; V. 1a, 2b), einen Zuspruch (Kohortativ /Jussiv/, engagiertes Präsens; V. 3a,b) und eine Aussicht auf die Folgen (w-qatal; V. 4f) beinhaltet.

Die jiqtol-Form kann in der gegebenen rhetorischen Platzierung die Funktion eines Präsens-Indikativs („ja, ich gieße") oder eines Volitivs, bzw. Kohortativs („ich will gießen"). Sie bringt eine performativische Aussage - für die Adressaten in aktueller Not verkündet sie das prophetische, bzw. göttliche Trostwort. Diese Aussage ist präsentisch aktuell in der selben Weise, wie die Anrede „fürchte dich nicht". Der Umbruch der Situation (gegen 43,28) liegt nicht in einer unbestimmten Zukunft, sondern spielt sich gerade durch diese Verkündigung ab. In diesem Sinne sollte man die Verben V. 3a+b mit einem engagierten Präsens (höchstens mit einem Volitiv, der zwar zukunftsorientiert ist, aber grundsätzlich die aktuelle Entscheidung und den Willen zu handeln ausdrückt) übersetzen, nicht aber mit einem Futurum.

Dann ist es auch möglich, die Vv. 4-5 als eine darauffolgende Erneuerung des Gottesvolkes zu verstehen, das hier als „Jakob/Israel" angesprochen wurde. Diese Erneuerung ist aber an diesem Ort eine innere Sache der verdürrten Gottesgemeinde, in welcher ihr Aufwuchs trotz aller Voraussetzungen sich doch zu Jhwh bekehrt und bekennt. Obzwar Jesaja die Gedanke einer „Völkerfahrt zu Zion" wohl kennt (2,3ff; 56,3ff), an dieser Stelle spielt sie keine Rolle - hier ist keine Rede über Proselyten, sondern über die Söhne Israels (zera, V. 3b), die erstaunenswert zu Jhwh zurückkehren.

e. eine Gesamtdeutung des Textabschnitts

In enger Anknüpfung an die Erklärung des Bannes (cherem [sic!]; 43,28), welcher dem Gottesvolk wegen seiner Untreue und seiner Entfremdung zugekommen ist (43,22ff), wird hier demselben „Jakob/Israel" ein unerahnter Neuanfang verkündet. Mit diesem Bruch kommt der Jhwh selber, der hier als Schöpfer und Helfer seines Volkes erinnert wird (V. 2a); dem entspricht, dass das Volk an die Attributen der Erwählung und des Dienst(-Verhältnisses) errinnert wird (V. 1a, 2b). Den Umbruch verkörpert die Verkündigung des Segens, bildhaft als ein Aufgießen des Gottesgeistes auf die verdürrte Gemeinde ausgedrückt und performativ als ein engagiertes Wort des Beistandes zugesprochen (V. 2b, 3a.b). Damit ist die Notlage schon durchbrochen, wenn auch die Folgen an der Seite der Adressaten erst kommen (V. 4-5). Sie sind als Erneuerung des /Bundes-/Verhältnisses zu Jhwh charakterisiert, welches sich in einem deutlichen Zugehörigkeit-Bekenntnis äußern wird. Ein bekennendes „Erinnern", dass Israel dem Jhwh zugehört, bzw. dass Jakob ein „Knecht des Jhwh" ist, wird nämlich bei Jesaja als ein Zeichen der Rettung, als ein Heimkehr aus dem Exil verstanden (vgl. 44,21-22).

3. zum liturgischen Gebrauch

Die oben angedeuteten exegetischen Beobachtungen beeinflussen erheblich die Möglichkeiten einer Verwendung des Textes als Predigtperikope im christlichen Gottesdienst. Dieser Text wird als Predigtperikope für den Pfingstsonntag vorgesehen.(24) Offensichtlich, dieser Text, der wörtlich vom „Gießen des Gottesgeistes" spricht, ist einer der prononciertesten Abschnitte, den man überhaupt im Alten Testament wählen konnte (es werden auch Texte wie Jl 3; Jes 32,15-20; Ez 36,24-36 oder Ez 37,1-14 für diesen Fest genommen).

Aufgrund der oben besprochenen Bedeutsamkeit, welche der performativ-aktuelle Modus für diese Aussage hat, könnte man sogar behaupten, dass dieser Text von allen erwähnten Alternativen eindeutig der beste für Pfingstsonntag ist. An diesem Fest wird doch nicht die Verheißung des Heiligen Geistes gepredigt (oder sogar um das Kommen des Geistes gebetet), sondern wird das Ausgießen des Geistes aktuell verkündigt und gefeiert - neben dem retrospektiven Aspekt (der Geist Gottes wurde ausgegossen, Apg 2,1ff) macht das präsentische Feiern und das Proklamieren dieses Umbruch-Ereignisses den Kern dieses Festes aus. Das Gießen des Geistes ereignet sich „im liturgischen Heute"(25) des Festes - und dadurch ist der homiletische Casus definiert, dem unser Text „dienen" soll.

Deshalb - und hier komme ich zu meiner einleitenden Frage zurück - halte ich es für ganz passend, den Text Jes 44,1-5 nach der hebräischen Fassung (mit ihrem präsentischen, performatorischen Modus und mit Einbeziehung des Kontextes) im christlichen Gottesdienst zu predigen. Die Intention des Textes begegnet wohl dem Casus. Dagegen die Vorgangsweise, welche die Deutungsart der Septuaginta weiterführt und für die Predigt zu diesem Feier ein Verheißungstext nimmt - obzwar dieser derselbe, nur anders übersetzter Text ist -, muss man für liturgisch unzutreffend halten. Eine Verheißungslesung muß man nämlich am Pfingstsonntag unvermeidlich mit einer „Erfüllung" ergänzen - dann wird aber die eigentliche Botschaft nicht von dem vorgelesenen Predigttext gezogen.

4. Fazit

Anhand des Beispiels der Anwendung von Jes 44,1-5 als Predigtperikope zum Pfingstsonntag kann man wahrnehmen, dass sowohl bei der Wahl des Textes (und bei dem Ausschnitt aus dem Kontext) als auch bei der Auffassung der Hauptthese sich die christliche Pfingstbotschaft als der hermeneutische Rahmen durchsetzt; in diesem Rahmen wird der jesajanische Text gelesen, verstanden und interpretiert. Darin steckt eine Gefahr. Es ist wohl möglich, dass wir, Christen - um des Christus Willen - sich für die Adressaten dieser Worte halten können; mit anderen Worten, dass wir uns als „Nachkommenschaft Jakobs" auffassen, welche auf Grund der „Bewässerung" durch Gottesgeist bekennt „ich bin des Herrn". Übrigens, gerade bei Jesaja finden wir explizite Aussagen darüber, dass sich die Nicht-Israeliten auch auf den Weg zu Zion machen können.(26) Dieses Selbstverständnis und diese wichtige Schriftstellen sollen uns aber nicht zu solchem Lesen der Schrift bringen, welches einen Anschlag gegen die Botschaft der konkreten Aussage treibt, welches eine zusätzliche Spannungen in die Texte hineinlegt und welches sich nur selektiv zutreffende Motive aneignet; vielmehr soll uns dieses Selbstverständnis auf den Weg bringen, wo wir die prophetische Verkündigung der Tora-Jhwhs mit den Ohren des „Jakob/Israel" zu hören lernen werden. So kann sich auch für uns der unherleitbare und staunenswerte Segen, der das Volk Gottes konstituiert, aktuell ereignen.

* * *

personalia auctoris:

Dr. Martin Prudký
Dozent für das Alte Testament
an der Karls-Universität in Prag, Evangelisch-Theologische Fakultät
(Tschechische Republik)

Adresse:
Z. Wintra 15
CZ - 160 00 Praha 6
E-mail: prudky@etf.cuni.cz
URL: http://www.etf.cuni.cz/~prudky


Fussnoten:

1. Dieser Artikel ist entstanden aus einem Beitrag, den ich am 21. Oktober 1998 in dem ehemaligen Arbeitszimmer von Prof. Karel Deurloo (damals aber schon Kaffee-Raum des Delenus-Instituts) im Rahmen eines gemeinsamen Seminars für die Prager und die Amsterdammer Theologie-Studierende vorgetragen habe. Mein herzlicher Dank für die sprachliche Korrektur gilt dem Theologiestudenten Sven Christian Puissant aus Heidelberg.

2. Eines der ältesten bisher entdeckten Systeme mit alttestamentlichen Predigtperikopen für Sonntage und Feste des christlichen Kirchenjahres ist die Perikopen-Reihe der alten böhmischen Brüder-Unität (Unitas Fratrum), dessen letzter Bischof, Jan Amos Comenius, als Exulant 1670 in Amsterdam starb und in Naarden begraben liegt. Das Perikopen-System kann man in den Postillen von Ondřej Štefan (1575) und von Jan Kapito (1586) wiederfinden, ist aber allem Anschein nach viel älter. In einer Übersicht wurde diese Perikopen-Reihe auch in der Elstner-Bibel (herausgegeben in Berlin, 1813) abgedruckt. Siehe näher bei J. Smolík, "Starozákonní perikopy v synagoze a v církvi", in: Teologická reflexe 1 / 1999, 131-143.

3. K. A. Deurloo, "Úvod do exegeze dle amsterdamské tradice a poznámky o pracovní metodě" typoscript, Vizovice/Praha 1986; ders., "Exegese naar amsterdamse traditie", in: A. S. van der Woude (red.), Inleiding tot de studie van het Oude Testament, Kampen 1986, 188-198; K. A. Deurloo, R. Zuurmond, De bijbel maakt school. Een amsterdamse weg in de exegese, Baarn 1984.

4. Vergleiche z.B. die graphische Gestalt und die Struktur der Überschriften in der Übersetzung M. Luthers (rev. 1975), der Neuen Jerusalemer Bibel (1985), der Elberfelder Bibel (rev. 1985/1991), oder dem tschechischen Ökumenischen Übersetzung (1985).

5. Vgl. auch K. Elliger, Op. cit., 360ff.

6. Im gleichen Kontext vgl. auch 41,8.14; 43,1; 44,21; 45,4; 46,3 und 48,1.12.

7. Vgl. W. Brueggemann, "Unity and Dynamic in the Isaiah Tradition", in: ders., Old Testament Theology: Essays on Structure, Themes, and Text, Minneapolis 1992, 252-269.

8. Zu Text-Varianten und ihren möglichen Deutungen vgl. ausführlich K. Elliger, Deuterojesaja (Biblischer Kommentar XI/1), 363f.

9. Gegen Elliger (Op. cit., 391f) und mehreren anderen modernen Kommentatoren, die aus dem Form-Wechsel im Vers 5 urteilen, dass der Vers 5 eine nachträgliche Ergänzung des Abschnittes sei. Das Verstehen und die Interpretation des Textes ziehen sie oft daraus, dass man hier plötzlich über andere Aktanten spricht als zuvor - nämlich über die Proselyten, die von allen Nationen der Welt zu Israel hinkommen; vgl. G. A. F. Knight, Servant Theology: A Commentary on the Book of Isaiah 40-55 (International Theological Commentary), Grand Rapids 1984, 76f (siehe Zitat in Anm. 20).

10. W. Schneider, Grammatik des biblischen Hebräisch, München 1973 (81993).

11. Vor allem die Verbformen, siehe W. Schneider, Op. cit., § 48. Das Verbale Satzglied - Tempora; E. Talstra, Text Grammar and Hebrew Bible, in: Bibliotheca Orientalis 35 (1978), 169-174 und 39 (1982), 26-38; A. Niccacci, The Syntax of the Verb in Classical Hebrew Prose (JSOT Suppl. 86), Sheffield 1990; M. Prudký, K výuce biblické hebrejštiny (Habil., Typoscript), Praha 1991, 16-41.

12. Für die Selbstbezeichnung der Jhwh-Kommunität/en im Spannungsfeld der Israel-Juda Polarität und ihre Rolle siehe B. J. Diebner, "Juda und Israel: Zur hermeneutischen Bedeutung der Spannung zwischen Judäa und Samarien für das Verständnis des TNK als Literatur", in: M. Prudký (Hrsg.), Landgabe. Festschrift für Jan Heller zum 70. Geburtstag, Praha 1995, 86-132.

13. Vgl. Jes 1,20; 40,5 und 58,14.

14. In abmahnenden und verwehrenden Aussagen entspricht eine Verbindung des Jussivs mit Negation-Partikel 'al dem Modus des Imperativ. Vgl. Gesenius-Kautzsch, Hebräische Grammatik, Leipzig 190928, § 109/1b; W. Schneider, Op. cit., § 51.2.1.2; B. W. Waltke, M. O'Connor, Biblical Hebrew Syntax, Winona Lake 1990, § 34.

15. Septuaginta übersetzt „... /du/ geliebter Israel". Vulgata deutet den Namen in Anspielung auf das Verb j-š-r („aufrecht, gerade sein") „... /du/ aufrechteste" /rectissime/.

16. W. Schneider, Op. cit., § 48.

17. Eine ähnliche Doppel-Bezeichnung weist z.B. auch Jes 5,1-6 + 7 aus.

18. Gegen K. Elliger, Op. cit., 369 und 394 u.a.

19. So kommentiert z.B. Hieronymus: „non enim omnes ex Israel, sed magna pars ex gentium multitudine in nomine Israel assimilabitur" (MPL 24, 435); oder Luther: „Hic vocabitur nomine Jacob. Est clarissimus locus de vocatione gentium" (D. Martini Lutheri exegetica latina 23, Scholia in Iesaiam prophetam, hrsg. H. Schmidt, Frankfurt a.M. 1860).

20. So - unter vielen anderen - klassisch Hieronymus: „Et effundam, sive ponam spiritum meum super semen tuum ... quae ex aqua et Spiritu Sancto in baptismate renascetur. Quam et in Evangelio Salvator promisit, dicens: Qui sitit, veniat ad me, et bibat [Joh 7,37]." (ibidem); oder in einer Anknüpfung an den „rituellen" Aspekt des Septuaginta-Wortlauts auch Walafrid Strabo: "Effundam Spiritum meum. Scilicet in baptismo per impositionem manuum" (MPL 113, 1287); ganz modern dann G. A. F. Knight: „The water of life converts. The Spirit changes the human heart. There is no suggestion here that only Israelites are to experience this new birth. Thus ... a pagan will one day declare 'I am the Lord's '... Another proselyte will enter the family of God by calling himself by the name of Jacob, the Father of Israel. Still another proselyte will tattoo his hand in the manner that a slave had to do to show to whom he belonged... The fourth proselyte mentioned here will, so to speak, be baptized into the people of God with a new name to show his new condition. ... So DI [Deutero-Isaiah] now portrays [Israel] as a supranational idea (cf. Rom. 8:14-17; 11:13-24) or even, to use present-day language, as the Church as she exists in the mind and purpose of God." (Servant Theology: A Commentary on the Book of Isaiah 40-55, International Theological Commentary, Grand Rapids 1984, 76f). Auf das Zukommen der fremden Völker deuten z.B. B. Duhm, Das Buch Jesaja, Göttingen 1914, 303f; ähnlich K. Elliger, Op. cit. 391-393, oder C. Westermann, Das Buch Jesaja (ATD 19), 111f.

21. Eingehend in M. Prudký, „Exegeze starozákonní perikopy a její život v křesťanské tradici (Iz 44,1-5)", in: Teologická reflexe 2 / 1999, 103-119.

22. Indikativ Präsens bringt die Übersetzung M. Bubers, K. Elligers (Op. cit., 360) und die Einheitsübersetzung. Vulgata hat Konjunktiv Präsens. Luthers Übersetzung versteht die Verb-Form als Kohortativ und übersetzt mit einem Volitiv.

23. Wörtlich „ich werde Wasser geben // ich werde meinen Geist auf deinen Samen auflegen"; der Begriff epitithemi ist ein technischer Ausdruck für rituelle Handlung, vgl. Mk 16,18; Apg 8,17.19; 9,17; 28,8 u.a. („die Hände auflegen").

24. Siehe Anm. 2; als zweite Möglichkeit ist in dieser Perikope-Reihe Ez 36,24-36 vorgeschlagen.

25. K. A. Deurloo, "Geschichte und Geschichtlichkeit am Beispiel von Jesaja 40-55", in: E. Noort (Hrsg.), Geschichte und Geschichtlichkeit in Theologie und Glaubensgemeinschaft. Vorträge der ersten Konferenz der Mittel-, Ost-Europäischen und Niederländischen Theologischen Fakultäten (Theologie zwischen Ost und West Band 1), Groningen 2000, 94.

26. Z. B. Jes 2,4; 19,18ff, 56,3ff.


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