Psalm 90: "Alles nur vergebliche Mühe?"

Sonntag Jubilate, 25. April 1999,
Universitätsgottesdienst in der Peterskirche, Heidelberg
(Teil einer Predigtreihe: Arbeit im Licht des christlichen Glaubens)

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1 EIN GEBET DES MOSE, DES MANNES GOTTES.

Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.
2 Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

3 Der du die Menschen lässest sterben
und sprichst: Kehrt zurück, Menschenkinder!
4 Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.
5 Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,
sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras,
das am Morgen noch sproßt,
6 das am Morgen blüht und sproßt
und des Abends welkt und verdorrt.
7 Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen,
und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen.
8 Denn unsre Missetaten stellst du vor dich,
unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.
9 Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn,
wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.
10 Die Tage unseres Lebens währen siebzig Jahre,
und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre,
und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe;
denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.

11 Wer glaubt's aber, daß du so sehr zürnest,
und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm?

12 So lehre <uns> denn zählen unsere Tage,
damit wir ein weises Herz erlangen!

13 HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns
und sei deinen Knechten gnädig!
14 Fülle uns frühe mit deiner Gnade,
so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.
15 Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest,
nachdem wir so lange Übles gesehen haben!
16 Laß an deinen Knechten sichtbar werden dein Tun,
und deine Majestät über ihren Söhnen.
17 Die Freundlichkeit des Herrn, unseres Gottes, sei über uns
und festige über uns das Werk unserer Hände!
Ja, das Werk unserer Hände, festige <du> es!

(Luther Bibel 1984; korrigiert, teilweise durch Elberfelder Übersetzung)

– dies sind die Worte der heiligen Schrift, Grundlage der Verkündigung.

Liebe Gemeinde,
beim ersten Hören dieses Textes könnte man den Eindruck bekommen, hier spricht ein sympathischer Skeptiker. Neben so vielen anderen Stimmen der Bibel, die so schön und erhaben über die Majestät Gottes und über die grossen Männer /und Frauen/ des Glaubens sprechen, redet hier jemand, der wahrhaftiges Verständnis für die üblen Seiten des Menschenlebens hat. Hier spricht jemand, der das Menschenleben ohne Illusionen sieht – und das ist zweifellos sympathisch; ja, das ist kostbar und selten; insbesondere in der Kirche...

Mehrere Ausleger haben beobachtet, daß die Stimme dieses Psalmisten der des Kohelets sehr nahe ist. Hier, wie auch im Buche Kohelet (dem weisheitlichen Prediger), wird ein bißchen allgemein über das Schicksal des Menschen gesprochen, über menschliche Sterblichkeit, über die Vergänglichkeit des Lebens und über den Sinn menschlichen Tuns in dieser Welt; ausgesprochen ohne Illusionen (insbesondere ohne falsche religiöse Sicherheiten), in einer nüchternen Sicht.

Das spricht an. Nicht ohne Grund ist Kohelet bei vielen unserer jungen Theologie-Studenten in Prag das beliebteste Buch der ganzen Bibel (– es wird erstaunlicherweise viel mehr gelesen als z.B. die Evangelien!) ... Eine solche Stimme spricht heute an. Und für die biblische Botschaft ist sie wichtig und bedeutsam.

Ihren Platz im Chor des biblischen Zeugnisses hat diese Stimme bekom-men, weil sie aber viel mehr bietet, als nur eine nüchterne Sicht und illusionslose Beschrei-bung des menschlichen Loses.
Dieses "Mehr" kommt verschiedenartig in unserem Text vor.

Grosse Mühe macht sich der Psalmist (der jüdische Dichter, der das Gebet seiner Gemeinde leitet) schon mit dem Aufbau /mit der Komposition/ seines Liedes: Das nüchterne Nachsinnen über das vergängliche Menschenleben, welches wir in der Mitte des Psalmes finden, ist gründlich umgeben von einer starken Einleitung am Anfang (V. 1b-2) und einer ganz prägend orientierter Konklusion am Ende (V. 12ff).

Ganz am Anfang klingt schon an, was den sachlichen Ausgangspunkt ausmacht: das Fundament wird durch ein Bekenntnis zu dem HERRN gebildet, ... ein Bekenntnis, daß ER die Gottheit (nämlich der Zufluchts- und Wohnort) für uns ist. ... Ja, eigentlich handelt es sich nicht /nur/ um ein Bekenntnis, nein, es ist ein Lob, eine direkte Anrede an diesen guten Gott /an diese Zufluchts-Instanz/:

In dem letzten Teil des Psalmes (wo nach dem pessimistischen Nachsinnen des Menschenlebens dieser Gott wieder direkt angesprochen wird) erklingt dann auch DER NAME dieses eigenartigen Gottes explizit. Aber auch schon zu Beginn kann kein Zweifel aufkommen, wer hier gemeint wird: nämlich DER GOTT ISRAELS, den man ADONAI (unser Herr) anredet, ... DER, zu dem wir in den Gemeinden Jesu Christi /seines Sohnes/ "unser Vater" rufen). Dieser GOTT, oder besser gesagt: SEIN Wirken für den Menschen inmitten seines Volkes, ist hier der Ausgangs-, oder besser, der Brennpunkt, welcher über die Perspektive des Gebetes, ja, über die Perspektive des menschlichen Lebens überhaupt entscheidet.

Damit ist schon viel gesagt. Damit ist eigentlich schon das Proprium der Botschaft angegeben.

Der Mensch ist nämlich vielen anderen Möglichkeiten der Lebens-Perspek-tiven ausgeliefert. Es gibt so viele Instanzen, welche mit dem Anspruch werben, Brennpunkt und Fundament unserer Leben zu sein. Es gibt so viele kräftige Herrschaften und Mächte, welche das Leben der Menschen in ihren Griff nehmen und über uns entscheiden wollen; sie kommen heute oft in einer unauffälligen, säkularisierten Gestalt vor – aber das soll uns nicht täuschen. Es sind so viele Instanzen, welche die Menschen um ihre Lebens-perspek-tiven berauben und sie versklaven.

– Um nun in einem grossen Sprung sogleich unser Zyklus-Thema (die Arbeit) anzudeuten: Sowie wir inmitten des bunten Angebots von Lebensperspektiven gerade den GOTT ISRAELS als unseren Brennpunkt proklamieren, so reden wir ganz konkret und sogar polemisch von DEM, der sein Volk aus dem Sklaven-dienst Ägyptens herausgeführt hat, ... von DEM, der dem Menschen nicht nur sagt, daß er vergänglich sei, ... daß er "im Schweiß seines Antlitzes Brot zu essen ... und zum Staub heimzukehren hat ..." (Gen 2,19) – sondern im Besonderen von DEM, der für jeden Menschen im Ursprung einen Schabbat, einen Zeitraum für gesegnetes Leben (Leben in Freiheit und Freude) geschaffen hat. • Dieses GOTTES zu gedenken und IHN für den Brennpunkt unserer Lebens-perspek-tive zu halten, bedeutet, daß sich inmitten allen berechtigten Seufzens und Klagens eine unerwartete Zukunft eröffnet – ohne Illusionen, / ... den anderen Perspek-ti-ven, welche sich so reichlich anbieten, zum Trotz.

Dieser GOTT ist nämlich einer, den die Exodusgeschichte charakterisiert; oder christlich gesagt, dieser Gott ist einer, dessen Weg für unser Leben durch das Ostergeschehen geprägt ist.
Von dieser Pesach-Perspektive her redet eigentlich auch der Psalmist. Ganz treffend trägt also dieser Psalm die seltsame Überschrift "ein Gebet für Mose, den Mann Gottes". Dieser Psalm ist also ein Moselied; ähnlich wie im Dt 32 – d.h. ein Lied, in dem das menschliche Leben durch das Fenster der Tora betrachtet wird:

( ... so singt unser Psalmist)

Das ist die "Logik" der Torat-Mosche, der Lehre Mosches, welche hier verkündet wird. – Inmitten der Vergänglichkeit, da, wo keine Illusionen helfen, ist es unbedingt hilfreich DES HERRN (dessen Name hier so sparsam, eigentlich nur einmal, vorkommt) zu gedenken, ja, IHN anzusprechen ... ihn anzurufen. Es ist merkwürdig, wie das Lob, das Seufzen und das Nachsinnen über die Vergänglichkeit letztendlich (gezielt!) in das Anrufen Gottes übergeht.
Merken sie, fast alle Sätze in dem Schlußteil des Gebets sind durch die Imperative geformt:

Ich hoffe, sie haben die Korrespondenz der zwei Pole der "Arbeit" gehört – "dein Wirken" und "unsres Tun"? Hierum handelt es sich nämlich am Ende des Mose-Liedes:
Dein Wirken werde sichtbar über DEINEN Knechten, das Tun unsrer Hände richte auf! – Das Tun unsrer Hände, unsre Arbeit, wird hier letztlich nicht mehr als vergänglicher und eitler Kummer und als Qual verstanden , sondern als etwas, das "gnädig eingesetzt worden ist", ... als etwas, das von dem HERRN /gemäß seiner Perspektive/ aufgerichtet worden ist, – und worüber dann SEIN Wirken sichtbar wird.

In der altkirchlichen Evangeliumsperikope des ersten Sonntags nach Ostern (Joh 20,19ff) sagt der GEKREUZIGTE, der völlig überraschend als ein LEBENDIGER am Morgen des ersten Tages nach Schabbat gekommen ist, zu seinen Nachfolgern:
Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
Hier ist es von der anderer Seite als in unserem Psalm gesagt (es ist kein Gebet eines Menschen, sondern ein Wort, sprich: ein Gebot des Herrn!); aber es handelt sich auch um den Bezug zwischen dem "Wirken des Herrn" und "dem Tun unsrer Hände". Die Logik des Evangeliums ist in diesem Punkt der Logik der Torat Mosche, der Weisung Moses, sehr nahe. Sie sind nicht voneinander zu trennen.

Darum ist es auch ganz angemessen, diesen Psalm, das Gebet Mose, am Sonntag Jubilate in einem christlichen Gottesdienst vorzulesen und zu verkünden.
Die Bitte "Sichtbar werde dein Wirken über deinen Knechten!" ... und "Das Tun unsrer Hände richte auf über uns!" ist hier übrigens auch ganz eng mit dem Aufruf samchenu (Erfreue uns!) verbunden. – Erfreue uns ... sodaß wir jubeln können, sodaß wir Dein Wirken rühmen können.
Das gehört nämlich auch zur Logik des Evangeliums, sprich: zu der Logik der Weisung Mose: man betet um "das Sichtbar-werden des Wirkens Gottes", ... um "das Aufrichten des Tuns unsrer Hände", weil man davon ausgehen kann, daß ER unser Gott ist – trotz all unsrer Vergänglichkeit und trotz aller Kraft SEINES Zornes. Der Brennpunkt des Menschenlebens (inklusive der menschlichen Arbeit) bedeutet in der hier bezeugter Perspektive nämlich erstens:
DU HERR, Du bist unser Zufluchtsort...
... ja, dann kann man doch, jubeln!

Amen.

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